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VI. Die Pathogenese der MS

Im letzten Abschnitt wurden Ernährungsfaktoren als Hauptursache bei der Verbreitung der MS nachgewiesen. Natürlich, wenn die Ernährung die Hauptursache ist, dann muß sich aufzeigen lassen, daß Ernährungsfaktoren in der Lage sind, die verschiedenen bekannten Krankheitsprozesse der MS auszulösen. In diesem und den nächsten Abschnitten werden die grundlegenden Krankheitsprozesse der MS (Pathogenese) kritisch überprüft und die theoretische Basis dafür dargestellt, daß Ernährungsfaktoren diese Prozesse auslösen.

 

Die grundsätzliche Pathogenese der MS schließt das Eindringen von Immunzellen (z.B. T-Zellen, B-Zellen, Makrophagen) ins ZNS durch die Wände der Kapillaren und Venülen (Traugott, 1990; Poser, 1993). Immunreaktionen treten auf, eine Läsion bildet sich und schließlich wird das Myelin zerstört.. Myelin besteht aus Fettgewebe, das die Nervenstränge umschließt. Es dient im wesentlichen zur Isolierung und ist verantwortlich für die ungestörte Befehlsübertragung durch die Nerven. Der Verlust des Myelins verursacht eine verminderte Fähigkeit zur Befehlsübertragung und eine daraus folgende Vielzahl von Unfähigkeiten, die sich über die Zeit schrittweise verschlimmern, wenn immer mehr Myelin zerstört wird.

 

Es ist sehr wichtig festzuhalten, daß bei gesunden Menschen Immunzellen nicht in der Lage sind, die Kapillaren und Venülen am ZNS zu passieren und ins Gewebe des ZNS einzudringen. Dies geschieht nicht, weil die Wände der Kapillaren am ZNS von denen des übrigen Körpers verschieden sind, indem sie sehr enggepackte Zellen besitzen, die ein Passieren der Immunzellen nicht erlauben. Dieses spezielle Merkmal des Adersystems am ZNS wird daher Blut-Hirn-Schranke (BHS) genannt (Traugott, 1990).

 

Es scheint, als ob eine intakte BHS das Eindringen von Immunkomponenten ins ZNS und damit verhindert, daß die MS auftritt. Wie von Compston (1991), einem der führenden MS-Forscher Britanniens angemerkt wird: "Das Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke kann als primärer Krankheitsprozess angesehen werden." Dies scheint besonders deshalb richtig, weil viele Menschen Immunzellen in sich tragen, die auf Gehirngewebe reagieren, aber nur wenige entwickeln MS. Wie von Soll (1968) vor vielen Jahren erklärt wurde: "Die Isolierung (des ZNS) beginnt im Fötuszustand vonstattenzugehen, sehr wahrscheinlich bevor die sogenannte immunologische "Selbsterkennung" geschieht. Damit mögen zumindest Teile unseres Gehirns in der Lage sein, eine Immunreaktion hervorzurufen... vorausgesetzt die Immunmechanismen hätten direkten Zugang zum ZNS." Also wurde schon vor beinahe 30 Jahren erkannt, daß der Bruch der BHS und die damit verbundene ungeschützte Preisgabe des ZNS an die autoreaktiven Immunzellen ein entscheidender Vorgang bei der MS ist. Diese Auffassung wird nun auf breiter Ebene akzeptiert, und Theofilopoulos (1995b) bemerkt in einem kürzlichen, zusammenfassenden Rückblick über Autoimmunkrankheiten: "Die Einleitung von Autoimmunkrankheit in der Folge des Kontakts mit Antigenen an sogenannten immunologisch "privilegierten Stellen" ist gut dokumentiert."

 

Diese Auffassung wird unterstützt durch Beobachtungen von MS-Läsionen auf kernspintomographischen Aufnahmen. Auf diesen wurde erkannt, daß die ZNS-Läsionen durch die Verwendung von Gadolin-DTPA deutlicher wurden (Miller u. a., 1988; Kermode u. a., 1990). Das Passieren dieser Substanz durch die BHS zeigt deutlich, daß die MS-Läsionen im ZNS dort auftreten, wo die BHS geschädigt ist, sodaß verschiedene Substanzen, unter anderen Gadolin, leicht durch die geschädigten Wände der Kapillaren hindurchgehen können. Desweiteren bemerkt Traugott (1990) " ..daß MS-Läsionen vorzugsweise um die postkapillaren Venülen herum lokalisiert sind", die eine " verhältnismäßig geringe Schrankenfunktion haben." Dies und andere Nachweise führten Poser (1987, 1992, 1993) dazu, in einer Serie von entscheidenden Schriften in absolut sicherer Weise zu erklären : "damit die MS zur Krankheit werden kann, die das ZNS betrifft, ist es notwendig, daß die Undurchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke sich verändert" (Poser, 1993, S. 53). Kürzlich wurde diese Betonung der Schädigung der BHS als Schlüsselvorgang bei der MS durch Lai u. a. (1996) bestätigt. Auf der Basis von wöchentlichen Kernspin-Aufnahmen bei Patienten stellen diese Forscher fest, daß "diese Befunde nahelegen, daß der Zusammenbruch der Blut-Hirn-Schranke ein unabänderliches und vielleicht unumstößlich notwendiges Ereignis bei der Entwicklung neuer Läsionen ist."

 

Der zweite Teil der MS Pathogenese, der kontroverser ist, ist die Ursache und der zeitliche Ablauf der Aktivierung der autoreaktiven T-Helferzellen (ein Typ von Immunzellen die stark in die MS-Pathogenese verwickelt sind {Traugott, 1990}), die mit den ZNS-Proteinen reagieren. Zwei Möglichkeiten sind vorgebracht worden. Eine Hypothese ist die, daß die T-Zellen außerhalb des ZNS im Blut aktiviert werden und diese Zellen dann die BHS passieren um das Myelin und andere ZNS-Proteine zu attackieren. Die andere Hypothese, die früher eine Rolle spielte, ist, daß die die autoreaktiven Zellen gegen ZNS-Proteine erst aktiviert werden, nachdem sie durch eine Bruchstelle der BHS hindurchgegangen sind und dort auf zuvor abgeschiedene ZNS-Proteine treffen.

 

Für mich ist es eher wahrscheinlich, daß viele der pathogenetischen autoreaktiven Zellen außerhalb des ZNS aktiviert werden. Mein Grund für diesen Schluß ist, daß die MS nur eine von vielen Autoimmunkrankheiten ist, und viele der anderen haben nur eine normale Kapillarwand zwischen Blut und angegriffenem Gewebe. Diese Krankheiten erfordern die Aktivierung der T-Zellen außerhalb des Gewebes und somit glaube ich, daß eine solche Erfordernis auch die vernünftigste Annahme bei der MS ist.

 

Die Ursache für die Aktivierung von T-Zellen gegen ZNS-Proteine außerhalb des ZNS ist etwas problematisch. Die am meisten akzeptierte Hypothese (Theofilopoulos, 1995b) ist die, daß Peptide (Fragmente von Proteinen) fremder Antigene, die durch Makrophagen (eines anderen Typs von Immunzellen) den T-Zellen präsentiert werden,Teilen von ZNS-Eigenproteinen hinsichtlich der molekularen Struktur ähneln mögen. Dies bezieht sich auf die sog. molekulare Mimikry, die früher erwähnt wurde. Experimentelle Ergebnisse haben klar gezeigt, daß ein solcher Mechanismus sowohl durch Nahrungsmittel als auch durch Viren die Aktivierung von T-Zellen gegen verschieden Eigenproteine auslösen kann (Singh u.a., 1989; Wucherpfennig u.a., 1995; Ostenstat u.a., 1995). Somit scheint molekulare Mimikry tatsächlich ein kritischer Faktor in der Pathogenese der MS zu sein.

 

Zusammengefaßt, die Hinweise sind stark, daß die Aktivierung von autoreaktiven T-Zellen sowohl innerhalb als auch außerhalb des ZNS eine Schlüsselrolle in der MS-Pathogenese spielt und daß MS-Patienten solche autoreaktive T-Zellen gegen das ZNS in sich tragen. Diese aktivierten T-Zellen setzeneine Reihe von Immunreaktionen in Bewegung, die eine Zerstörung des Myelins durch Verschiedene Immunelemente (z.B. Makrophagen) hervorrufen (Traugott, 1990). Der interessierte Leser sei auf Steinman (1993) hingewiesen und seine ausgezeichnete Zusammenfassung der Autoimmunkrankheiten im allgemeinen und er Multiplen Sklerose im besonderen. Weitere Artikel derselben Ausgabe des "Scientific American" verschaffen einen guten Überblick über die Immunologie.